Genau das tue ich. Laut Duden bin ich heute wieder mal Tourist. Ich besuche die Stadt Lodève. Nach einem späten Frühstück um halb 11, fahren Véronique, die Enkel und ich los. Von St.-Felix nach Lodève sind es nur 15 km, doch wir schaffen es tatsächlich, die richtige Autobahnausfahrt zu verpassen.
Als wir plötzlich durch einen Tunnel fahren, fällt uns der Irrtum auf.
Wer werden wohl etwas zu spät zum Fossilien-Präparierkurs der Enkel beim Naturkundemuseum ankommen. Véronique setzt alles daran noch pünktlich zu kommen: das Gaspedal wird durchgedrückt, in den Kurven fühlt man sich wie bei der Formel 1. Zum 11. Glockenschlag der Kirchturmuhr erreichen wir Lodève!
Nun schnell zum Museum. Wir sind uns nicht sicher, ob wir für den Parkplatz etwas bezahlen müssen. Ohne nach einem Ticketautomaten zu suchen, laufen wir los. Ein gutes Gefühl haben wir nicht. Plötzlich sehen wir zwei Polizisten, die auf dem Parkplatz kontrollieren. Aber egal, die Enkel müssen rechtzeitig zum Kurs! Am Museum angekommen, schaut Véronique, dass die Enkel ihren Kurs finden. Dann sprinten wir wieder schnell zum Parkplatz. Herzklopfen.
„Hoffentlich haben wir keinen Strafzettel!“, sagt Véronique zu mir.
Wie haben Glück. Kein Strafzettel! Die Polizisten haben sich ein belegtes Baguette bei der gegenüberliegenden Bäckerei gekauft, und schauen uns etwas amüsiert an.
Als wir dann nach einem Ticketautomaten suchen, stellen wir fest: es gibt keinen. Der Parkplatz ist kostenlos. Die ganze Aufregung war umsonst.
Erleichtert spazieren wir zurück zum Museum, wo Véronique ihre Enkel beim Kurs beaufsichtigen muss. Ich schaue mir währenddessen die Stadt an.
„Du solltest dir unbedingt die Kathedrale ansehen! Sie ist fast 1000 Jahre alt und hat wunderschöne Fenster.“, gibt mir Veronique noch als Tipp auf dem Weg.
Ich schlendere einige hundert Meter durch die engen Gassen, dann stehe ich vor der Kathedrale Saint-Fulcran de Lodève. Sie gilt eines der beeindruckendsten gotischen Monumente in Südfrankreich. Die Kathedrale stammt aus dem 13. und 14. Jahrhundert, und ist mit traumhaft schönen Glasfenstern ausgestattet. Die schwere Eichentür ist von unzähligen Händen glattpoliert. Sie knarzt, als ich sie öffne. Es dauert einen Moment, bis sich die Augen anpassen an die Lichtverhältnisse. Ich bin ganz alleine in der Kathedrale.
Aller Lärm von draußen verschwindet, bis auf das hallende “Wumm”, als die schwere Tür wieder ins Schloss fällt. Stille.
Die kühle Luft, die massiven Säulen des Mittelschiffs – alles wirkt gedämpft und leicht surreal. Man fühlt sich klein aber auch irgendwie geborgen. Ich verstehe, warum im dunkelsten Mittelalter so viele Menschen hier Schutz und Geborgenheit suchten. Man stelle sich vor, man sieht den ganzen Tag nur das matschige braun des Ackers. Dann betritt man eine Kirche mit Reichtümern und Farben, die das Vorstellungsvermögen sprengen. Das könnte für einen ungebildeten Bauern doch nur göttlich sein.
Auch ich bin beeindruckt. Ich bin fasziniert von der Kreativität und Handarbeit, die in Monumenten wie Kirchen steckt. Mit dem Glauben, etwas geistlichem, wurden auch unübertroffene künstlerische Meisterleistungen im weltlichen Sinne geschaffen. Und genau das ist ja auch eine Rolle der Kirchengebäude – eine Verbindung des irdischen und himmlischen.
20 Minuten genieße ich die Stille, lasse die Kathedrale auf mich wirken. In einem kleinen Seitenraum befinden sich unzählige Reliquien aus Gold, Silber und Edelstein.
Dann denke ich an weltlichere Dinge: genauer gesagt an Honig. Ich habe gesehen, dass nicht weit vom Parkplatz, ein Produzentenladen war. Davon gibt es in Frankreich relativ viele. Dort bieten viele lokale Hersteller ihre Produkte an. Meistens ist auch Honig zu finden.
Ich trete aus der Kathedrale in den Sonnenschein, und spaziere gemütlich zum Geschäft. Tatsächlich! Ich werde fündig, und kaufe mir einen Lavendelhonig und einen Heidehonig. Ein Baguette besorge ich mir frisch von einer Bäckerei, dann setze ich mich auf einer Bank in der Sonne hin und esse Baguette mit Honig. Dabei beobachte ich die Menschen und genieße die wärmende Sonne. In der Kirche war es doch recht kalt.
Die Zeit verfliegt, schon schlägt Glocke. Ich muss zum Museum. Der Fossilien-Kurs ist zu Ende, und wir haben verabredet uns am Museum zu treffen.
Stolz präsentieren mir die Enkel ihre Plastiken. Darauf sind Ammoniten und Muscheln zu erkennen.
„Erst haben wir einen Abdruck von den Fossilien gemacht, und dann haben wir Gips in den Abdruck getan.“, erzählen Sie mir. „Als der Gips trocken war, konnte man ihn aus der Form rausnehmen. Und voilà, man hat ein Replica eines echten Fossils.“
„Jetzt müsst ihr die Fossilien nur noch anmalen, damit sie auch echt aussehen. Dann könnte man sie im Museum ausstellen.“, erwidere ich.
Wir laufen durch eine enge Gasse zurück zum Parkplatz. „Schau dir mal die Türen hier an“, sagt Veronique zu mir. “Teilweise haben die richtig tolle Verzierungen.“
Es stimmt. In den Eichentüren sind Szenen aus vergangenen Zeiten eingearbeitet. Blumenwiesen, Reiter, Wappen.
„Lodève war einmal eine reiche Stadt“, erzählt Veronique. „Hier fertigte man hunderte Jahre lang Kleidung für die französische Armee. Das war lukrativ, es gab viele Firmen. Die Lage der Stadt war günstig für die Textilproduktion, hier direkt am Fluss.“
Heute ist Lodève allerdings weit von seinen einst glorreichen Zeiten entfernt. „Lodève ist verarmt.“, erzählt Veronique. „Die Arbeit ist jetzt in den größeren Städten, die Leute kommen höchstens noch zum Schlafen zurück. Solche Städte nennt man hier ‚Ville dormoire‘ – wie die Schlafsäle in einem Internat“. So ändern sich die Zeiten.
Für das Mittagessen fahren wir zurück nach Hause, dann steigen wir erneut ins Auto und besuchen Saint-Guilhem-le-Désert. Vorher kühlen wir uns aber noch in einem kalten Bergsee ab. Sehr erfrischend!
St.-Guilhem hat 253 Einwohner, und ist ein Dorf, das vom Tourismus lebt. Überall gibt es kleine Feinkostläden, so viele wie 250 Einwohner unmöglich gebrauchen können.
St.-Guilhem liegt auf dem Jakobsweg. Es gibt ein Kloster, wo heute die letzten 6 oder 7 Nonnen leben. Schlicht ist es dort, kein Schmuck, protestantisch: Ganz anders als die prunkvolle katholische Kathedrale in Lodève.
St.-Guilhem ist ein hübscher Ort, doch warum genau er zur Touristenattraktion wurde, weiß ich nicht. Ich habe schon viele Orte gesehen, die mit St.-Guilhem mithalten könnten, doch nicht annähernd so besucht sind.
Es gibt viele Dörfer mit Potenzial, doch nur wenige schaffen es Touristen anzuziehen. Manchmal liegt das an handfesten Dingen, wie der Verkehrsanbindung. Teilweise ist es auch ein engagierter Bürgermeister. Oder es ist einfach nur Glück – etwa, dass Hollywood entscheidet, dort einen Film drehen.
Es ist wie mit dem Erfolg einzelner Menschen. Es gibt unzählige Leute mit viel Potenzial. Doch lange nicht jeder schafft es, dieses auch auszuschöpfen – in etwas umzumünzen, das einen Ertrag zum Leben abwirft. Manchmal mangelt es an der Infrastruktur, etwa wenn man in einem Slum geboren wird. An anderen Stellen mangelt es am Engagement und Initiative. Und manchmal macht man alles richtig, doch es fehlt schlicht das Glück, zur richtigen Zeit die richtigen Menschen zu treffen.
Ein schöner Tag geht zu Ende – selbst ohne einen einzigen Kilometer mit dem Fahrrad zu fahren.