Am nächsten Morgen steigert Neo seine Versuche, Rita zum Spielen zu bringen. Er packt verzweifelt Ritas Schwanz mit seinem Maul und zerrt heftig. Auf dem glatten Holzboden rutschen Neos Pfoten ständig weg, doch er gibt nicht auf. Rita scheint allerdings Ignoranz für die beste Form der Disziplinierung zu halten und bleibt einfach schlapp liegen. Und siehe da, sie hat den längeren Atem. Neo gibt erschöpft auf und schlabbert hechelnd seine Wasserschüssel leer. Wahrscheinlich musste er auch die ganzen Haare aus seinem Mund ausspülen!
Ansonsten geht es an dem Morgen so hektisch weiter wie am Abend zuvor bei meiner Ankunft. Duschen, ein Brot für Unterwegs machen, Hunde ausführen, und ab zur Arbeit beziehungsweise aufs Rad. Deshalb habe ich leider wenig Zeit mich noch einmal mit Laura zu unterhalten. Wir schaffen es aber noch ein Foto zu machen mit den Hunden. Ich besorge mir dann bei der Bäckerei nebenan zwei Frühstücks-Croissants und bin auch gar nicht so unglücklich darüber, bei den Temperaturen, die angesagt sind, etwas früher loszukommen.
22:00
Heute war es warm, so wie gestern. Dafür hatte ich heute aber 20km mehr zu fahren und noch einmal eine Schippe obendrauf bei den Höhenmetern. Am Ende standen 102 km und 2120 Höhenmeter zu Buche. Viereinhalb Liter Flüssigkeit habe ich getrunken, davon dreieinhalb Liter Wasser und ein Liter Pfirsichsaft.
Ich habe konservativ gedacht und deshalb schon etwas mehr Wasser mitgenommen als normalerweise. Trotzdem wurde es zum Ende hin fast zu knapp. Für weitere Kilometer hätte ich keine Reserve mehr gehabt. Für das Wildzelten hätte das Wasser also auch nicht gereicht. Was ein Glück, dass ich bei Jordi die Nacht verbringen kann und dort essen und trinken kann was das Herz begehrt.
Jordi lebt in einem alten Klostergebäude aus dem elften Jahrhundert. Die alten Arkaden sind noch erhalten und grenzen direkt an das Wohngebäude an. Ich frage ihn bei meiner Ankunft: “Hast du schon einmal mit einem Metalldetektor das Gebiet abgesucht?”
„Nein“, meint Jordi. „Aber ich glaube, dass hier im Laufe der Jahre so viel umgebaut wurde, das hier sowieso nichts mehr zu finden ist.“
Ich denke trotzdem, dass eine Suche vielleicht etwas zutage fördern könnte. Mit meinem Detektor habe ich schon an unerwarteten Stellen interessante Funde gemacht, und irgendetwas haben bestimmt auch die Mönche verloren…
Allerdings lebt Jordi nicht die ganze Zeit in dem ehemaligen Kloster. Er teilt seine Zeit zwischen einer Wohnung in Barcelona und dem Kloster auf.
„Ich könnte es mir überhaupt nicht vorstellen, nur in der Stadt zu leben. Der ständige Lärm, die ganzen Menschen, die dichte Bebauung. Ich werde da recht schnell klaustrophobisch und kann es dann gar nicht erwarten wieder auf das Land zu flüchten! Andererseits sehne ich mir manchmal hier auf dem Land die Menschen herbei, diese Vielfalt an Gestalten und Kultur, die man in der Dichte nur in einer Großstadt erlebt.“
Ich kann diese Sicht wirklich gut nachvollziehen. Zwei Wohnsitze zu haben unterbricht die Monotonie, immer am gleichen Ort zu sein. Stattdessen kann man die Vorteile von zwei Gegenden gleichermaßen genießen. Doch immer wieder zieht es Jordi auch in die weite Welt hinaus.
Jordi ist ein echter Weltreisender, er hat schon alle Kontinente entdeckt außer Südamerika (und der Antarktis). Zu Fuß, mit dem Bus, einem gemieteten Auto oder – mit dem Fahrrad. Nur Südamerika fehlt noch, es ist als Kontinent ein weißer Fleck auf der Karte.
„Davor habe ich Angst“, erzählt er mir. „Warum?“, frage ich. Die Antwort überrascht: „Weil ich glaube, dass es dort so viele spannende Dinge zu sehen gibt, dass ich nie wieder hier zurückkomme!“
Von seinen dutzenden anderen Reisen ist Jordi immer wieder zurückgekehrt. Zurückgekehrt nach Ponts – in die Gegend, die innerhalb von 100 Kilometern Umkreis Hochgebirge, Großstadt und Meer zu bieten hat.
„Wie viele Orte auf der Welt können so etwas bieten“, sagt Jordi mit einem Lächeln, das zeigt, dass er weiß, in welch einer besonderen Gegend er lebt.
Doch Jordis Weg zum Weltreisenden war alles andere als geradlinig. Nach seinem Wirtschaftsstudium arbeitete er als Börsenmakler. „Mit Sport hatte ich nicht viel am Hut“, erzählt er. „Maximal die Strecke zu Fuß bis zur Diskothek“. Als er 28 war änderte sich allerdings seine Einstellung zu dem, was er mit seinem Leben machen wollte. Nachdem er entlassen wurde, machte Jordi eine lange Reise, die ihm ein Leben vor Augen führte, das er bis dahin gar nicht gekannt hatte.
„Ich wollte nicht mehr so lange arbeiten. Ich wollte die Welt erkunden, und ihre Menschen kennenlernen“, erklärt er mir, während wir auf dem Balkon sitzen, ein Bier trinken und Datteln essen. „Mein Leben ist gut. Ich arbeite im Winter auf der Skistation – das ist ein schöner Job, man trifft viele Leute und kann nach der Arbeit oder in der Mittagspause selbst Skifahren. Den Rest des Jahres kann ich reisen und andere Projekte verfolgen. Ich brauche nicht viel Geld und ich bin damit glücklich.“
Seine längste Radreise unternahm Jordi mit einem Freund aus Brasilien, der fünf Jahre mit dem Fahrrad um die Welt reiste. Von Spanien setzten sie mit der Fähre über nach Marokko und fuhren von dort aus mit dem Fahrrad immer entlang der Küstenstraße bis nach Dakar im Senegal.
„Wie macht man es denn mit dem Übernachten?“, frage ich.
„Wir haben oft bei Anwohnern gefragt, ob wir das Zelt bei ihnen aufstellen können. Sie haben uns dann meistens einen Ort gezeigt, wo es möglich war. Trotz ihrer Armut haben sie uns Wasser zum Waschen und Essen gegeben.“
„Und wie war so das Fahren?“
„Das schöne, wenn man im Norden Afrikas nach Süden fährt ist, dass man immer den Wind im Rücken hat. So konnten wir mit 40km/h in der Stunde über die Straßen brettern. Die sind leer, bis auf den gelegentlichen LKW. Da ist dann auch Lebensgefahr. Von hinten hört man nur die Hupe und dann rauscht der Koloss schon an einem vorbei. Manchmal musste ich von der Straße ab, da ich sonst rücksichtslos überfahren worden wäre! Da hat man schon Angst.“
„Ansonsten habe ich mich meistens relativ wohl gefühlt – außer in einem kleinen Gebiet, das richtiges Niemandsland ist. Das liegt zwischen Westsahara und Mauretanien und dort haben wir auch viele bewaffnete Männer gesehen, die mir wirklich Angst eingeflößt haben. Wir haben sie gefragt ob wir passieren können, und das war für sie alles kein Problem. Aber wenn man plötzlich in die Mündung einer Maschinenpistole schaut, pumpt doch ordentlich das Adrenalin durch die Venen!“
Von Dakar aus ist Jordi noch weitergefahren, alleine. Er ist einmal um das einst britische Gambia gefahren und bis tief nach Guinea hineingeradelt. Ein Land, von dem er sagt, dass er solche Armut noch nie woanders auf der Welt gesehen hat. „Da bekommt man Demut davor, wie man selbst lebt. Und Demut davor, dass trotz dieser Umstände die Menschen größte Gastfreundschaft entgegenbringen.“
Abends machen wir noch eine Wanderung auf einen nahegelegenen Berg, von wo aus wir den Sonnenuntergang in seiner ganzen Pracht sehen. Dann steigen wir über einen schmalen Trampelpfad den Berg hinab und genießen, zu Hause angekommen, ein Abendessen zu spanischer Uhrzeit um 22:00.
Es gibt einen großen Salat, eine Tortilla mit Frühlingszwiebeln, Brot und Wurst. Jordis Eltern sind auch da: stolze Katalanen, die mir am Esstisch sogar das ein oder andere Wort beibringen. In diesem Sinne, werde ich heute Abend nicht „Buenas noches!“ wünschen, sondern „Bona nit! Fins demà!“