Tag 78: Volksfeste, Entspannung und Spielzeuge

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Gestern habe ich das Nachtleben von Lissabon erlebt. In den kommenden Tagen wird überall in der Stadt gefeiert, zum Ehren von Lissabons Schutzheiligen Sankt Antonius.

Zusammen mit Teresa und etwa acht oder neun ihrer Freunde gehe ich zu einem öffentlichen Sportplatz, wo viele Tische und eine Musikbühne stehen. Wir kaufen uns Tickets im Wert von zehn Euro, und besorgen uns damit eine Spezialität Portugals: Sardinen.

Dazu gibt es Schnecken, Brot, Salat und eine Suppe – die so genannte Caldo Verde. Die Band spielt alles, von Schlager bis zu italienischen Liebesliedern, doch die Stimmung ist immer gut.

Die Portugiesen tanzen ausgelassen, auch ein älterer Herr ist dabei, der einen Hut trägt. Mit seinen Tanzschritten stellt er alle anderen auf der Fläche in den Schatten. Mit wechselnden Partnerinnen, mal ältere Frauen mal jüngere, zaubert er einen tollen Tanz nach dem nächsten auf den Boden.

Tanzen soll jung halten, ein Sport für Körper und Geist sein. Dieser Mann beherrscht ihn offenbar bestens!

Am Tisch sind wir noch mit etwas anderem beschäftigt. Es entzweien sich die Meinungen, wie man Sardinen am besten ist. Die einen essen nur die Filetstücke, während die anderen den gesamten Fisch verspeisen, Rückgrat und Flossen, und nur den Kopf übriglassen. Vermutlicherweise liegt es am persönlichen Hunger, wie viel vom Fisch man verzehrt.

Da die Metro in Lissabon um 1:00 Uhr nachts schließt, muss ich die Gruppe um kurz vor eins verlassen, um zurück zu Mario und Rita zu fahren. Mit der Metro geht das schnell. Während die anderen bereits auf dem Weg zur nächsten Feier sind, versuche ich hinab in die Metro zu steigen. Das ist aber gar nicht so einfach, da die meisten Eingänge bereits geschlossen sind. Darauf weist mich das Sicherheitspersonal hin. Doch schließlich finden wir alle einen Eingang in die Metro und ich erwische einen der letzten Züge zurück zu meinem bequemen Bett. Mit der großartigen Stimmung beschwingt, und einem Rauschen im Ohr von der lauten Musik, schlaf ich ein und erwache erst um 10:30 Uhr am nächsten Morgen.

Nach einem gemütlichen Frühstück überlegen wir, was wir heute unternehmen können. Ursprünglich hatte ich überlegt mit Teresa zum Strand zu gehen. Doch wahrscheinlich tummelt sich dort halb Lissabon, meinen Mário und Rita. Wir entscheiden uns stattdessen zum Monsanto zu fahren.

Der Monsanto hat nichts mit dem gleichnamigen Chemieunternehmen zu tun. Der Berg wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von einer kargen Fläche in einen Wald umgewandelt. Man pflanzte Korkeichen und eingeschleppte Eukalyptusbäume aus Australien an und heute gilt der Berg als beliebtes Naherholungsgebiet und grüne Lunge der Stadt Lissabon.

Auf angelegten Schotterwegen laufen wir eine schattige Runde durch das Waldgebiet. Wir treffen einen Forstbeamten, der erzählt, dass Mountainbiker wahrscheinlich einige 100 km Trails in dem Waldgebiet gebaut haben. Viele davon unerlaubt. Das setzt den Boden einer stärkeren Erosion aus, wenn es regnet. Allerdings habe er keine Befugnisse, die Mountainbiker davon abzuhalten. Die liegen bei der Polizei in der Stadt, erzählt er uns.

Wir stehen im Schatten unter einem Aprikosenbaum. Viele der saftigen Früchte liegen am Boden. Die sind köstlich, erzählt uns der Forstbeamte, probiert mal!

Der korpulente Forstbeamte schwitzt, als wäre er in einer Sauna. Verständlich, mit den langen schweren Hosen wird es warm bei etwas über 30°. Er erklärt uns trotzdem geduldig, was das Grundübel für ihn ist.

„Keine Behörde will Zuständigkeiten abgeben. Daher bleibt der Zustand wie gehabt und der Wald leidet.“

In zwei Jahren geht er in Rente, bis dahin möchte er aber noch in seinem alten Forsthaus leben bleiben. Früher gab es davon viele im Waldgebiet. In den letzten Jahren sind allerdings immer mehr der alten Häuser renoviert worden und teuer verkauft worden. Es ist wie überall in Lissabon. Wohlhabende Leute, oft aus Übersee, kaufen sich ein und verändern so den Charakter der Stadtviertel. Geographen und Soziologen nennen das Gentrifizierung.

Die Aprikosen schmecken übrigens wirklich lecker! An meine hatten sich schon ein zwei Ameisen ran gemacht, aber die schnippe ich mit dem Finger weg. Meine Aprikose! Saftig, süß und fruchtig schmeckt sie! Leider sind nur wenige heruntergefallen und die meisten hängen weit oben im Baum. Aber gut, man sagt ja, man muss an die tiefhängenden Früchte heran gehen. Rita scherzt, dass das Obst geklaut am besten schmeckt. Ich finde, sie hat recht. Auch wenn das Obst hier nicht geklaut ist, haben wir es doch selbst gefunden. Während man isst erfreut man sich also an seinem eigenen Glück, eine so schöne Quelle für leckeres Obst gefunden zu haben.

Wir wandern zurück zum Auto und setzen uns an einen Picknicktisch im Schatten zweier große Pinien. Dort essen wir belegte Brötchen, Erdbeeren, Tomaten und Radieschen und die beliebte Puddingtorte Pastel de Natal.

Dann nimmt jeder sein Buch aus dem Rucksack und wir versinken für zwei gemütliche Stunden in die Welt der Fantasie. Ich begleite Humboldt auf seine Expedition nach Russland, 1829. Nach seiner großen Reise nach Südamerika, zwischen 1799 und 1804, war es Humboldts zweite und letzte große Auslandsreise. Er war bereits 60 Jahre alt und deutlich bequemer mit Kutschen und großer wissenschaftlicher Begleitung unterwegs.

Im Auftrag von Zar Nikolaus sollte Humboldt Bergwerke untersuchen, um die Rentabilität einer Platinwährung, wie sie in Kolumbien eingeführt wurde, für Russland zu erforschen. Natürlich nutzte Humboldt die Mission auch, um seine in Südamerika gemachten Messungen zu komplettieren und zu ergänzen: als große Vergleichsstudie im asiatischen Raum sozusagen.

Ursprünglich träumte Humboldt davon, nach Indien zu reisen. Jahrelang bearbeitete er hohe englische Beamte und die East India Company. Allerdings biss er auf Granit. Sein kritischer Geist gegenüber den Kolonialherren in Südamerika ließ die Briten vermuten, dass Humboldt ebenso scharfsinnig und effektiv seinen Finger in die Wunden der Engländer in Indien legen würde.

Auch für die Russlandreise war eine der Bedingungen, dass Humboldt sich nicht zu politischen Themen äußert. Zar Nikolaus verfolgte eine Politik die auf Autorität, Religion und Traditionen beruhte.

Humboldt ließ sich auf diese Bedingungen ein: Nachdem er sah, wie die Ideale der Französischen Revolution mit der Rückkehr der Bourbonen an die Macht mit Füßen getreten wurden und auch in Preußen eine autoritäre politische Kultur herrschte, war seine Hoffnung an die politische Besserung der Umstände verflogen.

Desillusioniert zog er sich auf die Gebiete der Wissenschaft, der Wissensvermittlung und der Erziehung zurück. Humboldt hielt etwa in Berlin eine Vortragsreihe, die die Öffentlichkeit zugänglich war. Bei jedem einzelnen seiner über 60 Vorträge, waren die Säle bereits eine Stunde vor seinem Erscheinen zum Bersten gefüllt und es herrschte an dem Ort des Vortrags das reinste Verkehrschaos.

Doch einmal zurück zur Gegenwart. Nach etwa 2 Stunden an dem angenehmen Picknick-Ort, entscheiden wir uns zurück nach Hause zu fahren. Dort essen wir dann ein leckeres Abendessen, bestehend aus Salat mit roter Beete, Hähnchen und frischem Weißbrot.

Im Flur steht eine Kuriosität, die die meisten von uns wahrscheinlich noch aus dem Physikunterricht kennen. Fünf Murmeln sind in einer Reihe aufgespannt. Stößt man die Murmeln auf der einen Seite an, fliegt die Murmel auf der anderen Seite weg. Die Übertragung der Kräfte, unsichtbar für das Auge, fasziniert.

Immer wenn ich an dem kleinen Apparat vorbeikomme, kann ich nicht widerstehen damit ein bisschen zu spielen. Mal stoße ich zwei Kugeln an, mal drei oder gar vier. Ich weiß warum Schiller sagte, der Mensch ist nur Mensch beim Spiel. Es macht einfach wahnsinnig Spaß.

Mein Großonkel Mário bemerkt, dass ich mit dem Apparat spaß habe. Er zeigt mir eine andere Kuriosität, die er hat. „Hier“, sagt er mir. In seiner Hand hält er eine Sanduhr, die aber nicht wie üblich funktioniert. Statt nach unten zu regeln, treibt der Sand nach oben. Eine Umkehr des logischen Prinzips der Schwerkraft. Faszinierend! Fast so, als würde…

„Fast so, als würde die Zeit rückwärtslaufen“, meint Mario. „Wenn ich mit meinen Patienten arbeite und wir zurück in ihre Vergangenheit eintauchen, benutze ich gerne diese Sanduhr. Sie symbolisiert, wie wir die Zeit zurückdrehen, vom Erwachsenen- ins Kindesalter und weiter. Es hilft, wenn man sich so etwas abstraktes wie Zeit bildlich vorstellen kann.“

Ich habe eine solche Sanduhr noch nie gesehen. Die violetten Körner schwimmen in einer Flüssigkeit. Da die Flüssigkeit dichter ist als der Sand, treibt er nach oben, statt nach unten wie bei einer herkömmlichen Sanduhr.

Mario hat in seinem Büro viele Kuriositäten. „Das ist ein Kuriositätenkabinett“, meint er. Rita fragt, ob er noch die „Klapsmühle“ habe. Was ist wohl damit auf sich hat? Ich erfahre es sofort. Mário kommt mit einer Holzapparatur.

Die Klapsmühle ist rechteckig und aus braunem Holz. Auf der viereckigen Holzplatte sind zwei Bahnen, die sich in der Mitte schneiden und ein „X“ bilden. In jeder Bahn ist ein kleines Holzschiff, welches über eine Holzstange mit dem anderen Schiff verbunden ist.

„Die Klapsmühle habe ich benutzt, um meinen Studenten zu erklären was Psychiatrie ist“, erzählt Mário. Er demonstriert was er meint. Er dreht die Holzstange, über die die beiden Schiffe verbunden sind im Kreis. Mal bewegt sich das eine Schiff nach innen, dann das andere. Sie eiern auf ihren jeweiligen Bahnen umher, sind gefangen in ihrem stets gleichen Muster.

„Als ich meinen Studenten nur die Klapsmühle vorführte, waren sie nicht sonderlich beeindruckt“, erzählt Mario. „Aber jetzt schau mal, was passiert, wenn ich einen Stift an den Hebel halte und zeichne, was für eine Bewegung er macht.“ Mario führt vor. Auf dem Papier entsteht eine Ellipse.

„Psychiatrie“, sagt Mario, „geht darum, die Patienten auf eine stabile Umlaufbahn zu bringen. Das Chaos auf dem Spielbrett hat damit eine auf dem ersten Blick ersichtliche Ordnung, wie die Laufbahn der Planeten im Weltall. Unsere Aufgabe ist es, erstens diese verborgene Ordnung zu ergründen und zweitens diese Ordnung im Kopf der Patienten wiederherzustellen. Wenn Patienten aus dem Gleichgewicht geraten, herumeiern wie die Holzschiffe auf dem Spielbrett, dann ist es die Mission des Psychiaters, den Patienten zurückzuführen auf seine Ellipse – seine stabile Lebensbahn.“

„Spannend“, sage ich. Die Überleitung von dem unschuldigen Spiel mit den Holzschiffen hin zu den kosmischen Gesetzen der Umlaufbahn und die Verbindung mit einer stabilen Psyche zieht mich in den Bann. Eine solche Erklärung regt die Fantasie an, und so möchte ich mehr wissen über Mários Fachgebiet.

Im Mários Büro stehen unzählige Kuriositäten herum. Eine davon, eine Eule gegossen aus Metall, steht bei mir selbst auch auf dem Schreibtisch. Aber wofür Mario diese Eule verwendet hat, das wäre mir selbst nicht eingefallen.

„Manchmal hat man Patienten, die sehr in sich zurückgezogen sind, schüchtern sind und sich schwer öffnen können. Dann habe ich schon diese Eule benutzt, und das Gespräch über sie laufen lassen.“

„Wie ein Marionettenspieler also“, sage ich.

„Genau! Die Patientin muss nicht mehr mit mir direkt reden, sondern sie kann mit der Eule sprechen. Die Eule wird ein neutraler Schlichter zwischen uns beiden – und ich versuche noch etwas Humor einzubauen. Das funktioniert erstaunlich gut.“

Toll, was diese Eule schon alles gemacht hat. Und spannende Einblicke in die Arbeit eines Psychiaters.

Wir spielen auch mit anderen Spielzeugen. Ein Wagen, der sich wie eine Uhr über eine Feder aufziehen lässt, und dann Funken sprühend durchs Arbeitszimmer fährt. Mit einem „Hexbug“ (kleine Elektro-Käfer, die sich über Vibrationen vorwärtsbewegen können), den Mário in London gekauft hat. Und mit Kreiseln, wo Mario meint, sie erinnern ihn an seine Kindheit. Mich erinnern Sie an ein tolles Museum in Amerika, dass sich ausschließlich Kreiseln gewidmet hatte. Die drei solcher Spielzeuge haben wir damals im Museum gekauft, und soweit ich weiß, haben wir sie immer noch.

Ich selber bin auch ein Sammler, mindestens seitdem ich im Kindergarten bin. Es fing alles mit einer großen Kastaniensammlung an, und weitete sich über die Jahre auf Steine, Federn, Holz unterschiedlicher Arten und Formate und Münzen aus.

Aber was bringt überhaupt diese Anhäufung von Objekten, wo wir doch alle eines Tages sterben? Nichts ist für immer, und all die Mühe diese Objekte in seinen Besitz zu bringen, ist doch letzten Endes umsonst. Maximal freuen sich die Erben, und wenn nicht haben sie nur eine Menge Arbeit beim auszusortieren.

Doch so einfach geht die Rechnung nicht. Wenn die Umgebung, in der man sich befindet, auch auf die Welt der Gedanken ausstrahlt, dann kann es für den ein oder anderen durchaus anregend sein, sich mit spannenden Objekten zu umgeben. Hinter jedem der Sammlerstücke steckt eine Geschichte, eine Welt, die die Fantasie anregt.

Manchmal sind die Stücke mit Erinnerungen verbunden, und machen uns immer wieder bewusst, was die eigene Herkunft ist. Mit jedem Sammelstück geht das Hirn auf Reisen, jedenfalls ist das bei mir so. Ich verliere mich förmlich in der Geschichte, die hinter den Objekten steht: Was dieses oder jenes der Stücke in meiner Sammlung bereits wohl alles erlebt hat.

Insofern denke ich, dass das Sammeln auch eine Form der geistigen Erweiterung ist. Letztlich ist es so: Wir spiegeln uns in unserer Umgebung wider und unsere Umgebung spiegelt sich in uns selbst wider.

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